Gestern war es soweit: das W3C hat HTML5 den Recommendation-Status verliehen, womit es offizieller, fertiger Webstandard ist. Viele wichtige Leute finden das total toll und es wabert eine bunte Mischung aus Schulterklopfen und zynischen Kommentaren durch das Netz. Ich habe mich mal an einer neutralen Zusammenfassung der wichtigsten Fakten versucht:

Was ist jetzt überhaupt Webstandard?
Das, was nun Standard ist um vom W3C und allen anderen als „HTML5“ bezeichnet wird, ist die fünfte Version der Hypertext Markup Language – gewissermaßen HTML 5.0. Das Dokument beschreibt alle offiziell gültigen HTML-Elemente sowie diverse Details rund um Browser-APIs. Es handelt sich dabei nicht um die Gesamtheit des Technologie-Universums, das gerne auch gerne als „HTML5“ bezeichnet wird. Die Web-Plattform besteht aus vielen Einzelteilen, von denen einige dem neuen Standard entspringen, viele andere jedoch nicht. Der Umfang des Standards ist der große blaue Kreis in der folgenden Grafik, der Rest ist das erweiterte (teilweise noch nicht fertig standardisierte) HTML5-Universum:
Grafik, die das Verhältnis von diversen Webtechnologie-Spezifikationen zueinander illustriert
Man sieht deutlich: da ist noch einiges an weiteren Webstandards zu verabschieden.
Was gibt es Neues?
In dem neuen Standard gibt es diverse frische Browserfeatures, die heutzutage allerdings nicht mehr ganz so frisch erscheinen. Audio- und Video-Elemente, Application Cache, Canvas und so manche JavaScript-API sind dem geneigten Web-Nerd schon länger bekannt. Wichtiger dürfte sein, dass die neuen Spezifikationen mit einem ganz anderen Niveau an Präzision und Detailliertheit aufwarten, als es bei vorherigen HTML-Specs der Fall war. Im HTML5-Dokument findet man alles, nur keine schwammigen Formulierungen mit Interpretationsspielraum – ein großer Gewinn für alle Spezifikations-Leser und eine Messlatte für zukünftige Spezifikationen.
Hat HTML5 was gebracht?
Die Idee hinter HTML5 ist, den Browser von einem dummen Dokumentbetrachter in eine konkurrenzfähige Applikationsplattform zu verwandeln. Das hat recht gut funktioniert, denn im Prinzip gibt es nur wenig, das der Browser nicht leisten kann. Entsprechend viele Webapps werden heutzutage entwickelt, was ich persönlich vor allem an der Anzahl der Java- und C#-Entwickler in meinen JavaScript-Kursen messe. Im Mobile-Sektor sieht die Sache noch anders aus. Diverse technische Puzzleteile fehlen noch und auch bei den Webentwicklern mangelt es oftmals noch an Verständnis für mobilespezifische Probleme – die wenigsten machen sich z.B. Gedanken darum, wie schnell ihre Webapp oder Webseite einen Smarthone-Akku leersaugt. Ich gehe aber davon aus, dass sich all diese Probleme mit der Zeit lösen lassen und dass sich die Webplattform auch außerhalb von Hybrid-Apps auf dem Mobile-Sektor etablieren wird.
Was ändert sich jetzt durch die Standardisierung?
Nichts. Die meisten Features, die jetzt offiziellen Status genießen, funktionieren schon länger in modernen Webbrowsern. Einige andere Features sind auch am Tag nach der Standardisierung noch reine Papiertiger. Daran ändert der offizielle Status der Spezifikationen nichts.
Sollte die Standardisierung nicht erst 2022 passieren?
Der damalige Editor der Spezifikationen, Ian Hickson, hatte mal 2022 als mögliches Jahr der Standardisierung von HTML5 in den Raum geworfen. Hintergrund dieser Aussage war, dass es seiner Einschätzung nach mindestens so lange dauern würde, bis die HTML5-Testsuite vollständig und wirklich jedes Feature sicher in mindestens zwei Browsern gelandet ist. Stand heute fehlen auch in der Tat noch viele Tests und so manches Feature gibt es in keinem Browser. Aber das W3C hat sich trotzdem entschieden, den Standard-Stempel schon mal zu zücken.
Wie geht es mit W3C und WHATWG weiter?
Keine der beiden Arbeitsgruppen, die mehr oder minder nebeneinanderher an der Webplattform basteln, scheint vor der unmittelbaren Auflösung zu stehen. Zwar wird immer mal wieder verstärkt mit diversen Säbeln gerasselt (so wirft die WHATWG dem W3C regelmäßig vor, es würde Spezifikationen plagiieren und für alle Arten von Chaos sorgen), aber es haben mehrere Jahre lang mehrere Spezifikationen und beide Arbeitsgruppen nebeneinander existiert, ohne dass die Welt untergegangen wäre. Ob die Unstimmigkeiten über eine neue API innerhalb einer Arbeitsgruppe oder zwischen Arbeitsgruppen ausgetragen werden, macht in Endergebnis vermutlich keinen zu großen Unterschied. Am Ende liegt die Wahrheit eh im Browser und dort dann relativ eindeutig.
Was kommt als nächstes?
Von Seiten des W3C gibt es eine Spezifikation für HTML 5.1 und die WHATWG-Version des HTML-Standards geht schon länger über den Umfang von HTML 5.0 hinaus. Insofern herrscht an neuen Features kein Mangel. Hinzu kommen allerlei andere interessante Neuheiten in der Webplattform wie z.B. Service Workers, der gesamter Themenkomplex rund um Web Components und natürlich auch ECMAScript 6. All diese Neuheiten entstehen außerhalb des Zuständigkeitsbereichs eines möglichen neuen HTML-Standards statt, da dieser sich eben nur um HTML und die dazugehörige Browser-Infrastruktur kümmert.

Zusammengefasst: Eigentlich ist nichts passiert. Nur ein Teil des ganzen großen HTML5-Zirkus hat jetzt einen offizielleren Status als zuvor – aber im alten Internet Explorer funktioniert es trotzdem noch nicht. Also schön zurücklehnen und weitermachen und wie bisher!